Ohne Bilder
So viele Bilder, die während meiner fotografischen Streifzüge durch die WM entstanden sind – und so viele Geschichten wüsste ich hier zu berichten, die nicht durch ein einziges Foto dokumentiert sind.
Ich habe während der WM-Zeit so viele Menschen kennen gelernt wie in 10 Jahren Frankfurter Leben nicht. Die Art, Bekanntschaften zu schließen erinnerte mich an die lockere und unbefangene Atmosphäre, wie ich sie nur aus Urlauben kenne. So gibt es einige Geschichten, zu denen es keine Bilder gibt. Beispielsweise lernte ich in einer meiner wenigen Pausen in einem Eiscafé eine Spanierin und einen französischen Kameramann kennen. Beide sprachen kaum Englisch, sie dafür aber ein wenig Französisch und perfekt Deutsch. Ich, des Französischen nicht mächtig, konnte mit ihm vorwiegend mit Hilfe ihrer Übersetzungen kommunizieren. Ein international besetztes Trio, dass viel zu Lachen hatte. Das war eine halbe Stunde Urlaub mitten in Frankfurt.
Der Tatsache zum Trotz, dass durch Bilder dokumentierten Ereignissen immer eine größere Aufmerksamkeit geschenkt wird als rein textuellen Berichten, möchte ich in diesem Kapitel einige jener Geschichten erzählen, die sich während meiner fotografischen Streifzüge durch die WM in Frankfurt zugetragen haben - und für die es nun mal keine Bilder gibt.
Hilfbereit
Als ich einmal Kalifornien meinen Urlaub verbrachte, hat mich immer wieder die Hilfsbereitschaft der Menschen dort begeistert. Ich brauchte nur ein Auseinanderfalten des Stadtplans anzudeuten, schon standen mindestens fünf Personen um mich herum und fragten mich, ob sie mir helfen könnten. Von dieser Offenheit und Hilfsbereitschaft könnten wir ruhig mehr haben, dachte und denke ich mir immer wieder. Doch bei der WM habe ich es hier bei uns, mitten in Frankfurt anders erlebt. Mir schienen in dieser Beziehung viele Einheimische wie ausgetauscht – als seien sie voll zum Leben erwacht. So erlebte ich, dass ein junges Paar in der U4 seine Sitznachbarn in gebrochenem Deutsch nach der Kroatischen Botschaft fragte. Diese wussten es nicht und fragten wiederum andere U-Bahn-Passagiere. Nach einer Minute war der ganze Wagon in eine Diskussion verstrickt, wo denn genau sich der von dem Paar gesuchte Ort befinde. Die vielen, hilfsbereiten Leute kamen schließlich zu einem gemeinsamen Ergebnis und eine Frau bot den beiden an, sie bis zur Botschaft zu begleiten, da sie "da in der Nähe irgendwo in Bockenheim" wohne.
NoNoNo
In den ersten Tagen der WM begegnete ich vielen argentinischen Fußballfans und wunderte mich darüber, warum sie immer vor mir und meiner Kamera die Flucht ergriffen. Ich brauchte nur anzudeuten ein Foto von Ihnen zu machen, da kamen die Abweisungen mit hektischen Handbewegungen. Bevor ich meine Frage stellte, kam von ihnen schon ein "NoNoNo". Ich wunderte mich darüber und kam in einer solchen Situation auf der Zeil mit einer Frau ins Gespräch. Sie erklärte mir lächelnd, dass sie lange in Südamerika gelebt hätte und ich mich über das Verhalten der angereisten Südamerikaner nicht wundern solle. Es sei nämlich so, fuhr die nette Dame weiter fort, dass sie denken, ich würde nach der Fotografie Geld von ihnen verlangen und die unschuldigen Fans zur Kasse bitten. In manchen Teilen Südamerikas sei das wohl Gang und Gäbe. Ich solle ihnen doch immer ein "No money" zu verstehen geben, dann würden sie sich gerne Ablichten lassen. Gesagt, getan - und seitdem waren die Südamerikaner eines meiner liebsten Bildobjekte; wir verstanden uns hervorragend.
Unter Fotografen
Eine kleine Fotografen-Insider-Story:
Es war der Tag der Briggehibber, als einige der englischen Fans von der alten Brücke in den Main sprangen. Ich hatte einen idealen Standort am Geländer der Frankfurter Uferstraße mit freiem Blick zu den Springern. Als ich kurz hinter mir einen Pressefotografen erblickte, bahnte ich ihm eine kleine Gasse zu mir, indem ich die umstehenden Zuschauer freundlich zur Seite bat. Er freute sich über meine Geste und so kamen wir kurz ins Gespräch. Während er mit seiner Canon 1 Ds Mark II und einem 200'er Teleobjektiv bestens ausgestattet war, hatte ich auf meiner Kamera leider nur ein zu geringes Teleobjektiv drauf. Ein Objektivwechsel war quasi unmöglich, da ich dazu meinen Fotorucksack in dem sehr engen Raum und Zuschauergedränge hätte abnehmen und ausbreiten müssen. Schulterzuckend erklärte ich ihm: "I have the wrong lenses ...", worauf er in die Tasche griff, mir ein 300'er-Tele Festbrennweite hinhielt und sagte, in einem Ton, als böte er mir einen Kaugummi an: "No problem, take this one ...". Im ersten Moment dachte ich, er mache einen Scherz. Doch sein Blick verriet mir, dass er es ernst meinte. Leider wurden wir durch die Brückenspringer zu sehr beschäftigt, haben uns dann schnell in dem Gedränge aus den Augen verloren und sind uns leider nicht mehr begegnet ...
Ein Gebetsteppich vor der Katharinenkirche
16.06.06: Nachmittags sprach mich ein Iraner auf der Zeil an, ob ich ihn am frühen Vormittag des Folgetages fotografieren könnte, er mache nämlich "something very special" vor der Katharinenkirche: er wolle pünktlich um 8.30 Uhr auf seinem Gebetsteppich zu Allah beten und ihn beschwören, dass die iranische Nationalmannschaft das Spiel gegen die portugiesische Elf gewinnen möge. Ich habe ihn dann gefragt, was Allah dazu sagen würde, wenn ich ein Foto von ihm mache, wo doch im Koran ... Wir haben uns gut verstanden und haben viel gelacht. Ich konnte es ihm nicht versprechen und leider kam es auch nicht zu dem Fototermin ... um 8.30 Uhr in Frankfurt zu sein war entschieden zu früh, kam ich doch erst in der Nacht um 4.30 Uhr ins Bett.
„Isch liebe Deu-tsche-land“
Noch eine Anekdote, zu der es kein Bild gibt. Besser gesagt: es kann durch ihre rein tonale Eigenschaft gar kein Bild dazu geben. Ich hätte die Szene vielmehr mit meinem Voicerecorder einfangen müssen, als eine Hundertschaft von Deutschlandfans die von Stefan Raab kreierte, alternative Nationalhymne nach gewonnenem Achtelfinale lauthals sang: "Isch--liebe-Deu-tsche-land, na-na-na-na-na-na, ...". Woraufhin sich eine kleine Gruppe von Türken in den Singsang einreihte und Arm in Arm mit den Fans die eigentümliche Hymne von neuem erklingen ließen ...
Der versuchte Trick
Immer wieder haben sie es versucht, Jungs, etwa im Alter von 10 bis 15 Jahren, sich mit meiner Hilfe in die wegen Überfüllung geschlossene Mainarena zu schleusen. Mit meinen Kameras um den Hals sah ich wie ein "echter" WM-Reporter aus - und folglich war ich in ihren Augen auch einer. Weiter gingen sie davon aus, dass ich als vermeintlicher WM-Fotograf überall hinkam, wonach mir beliebte, als gäbe es für mich keine verschlossenen Türen, schon gar nicht zur Mainarena. Also hefteten sie sich an meine Fersen und bequatschten mich, ich solle sie doch mit in die Mainarena nehmen. Meine Versuche scheiterten ihnen zu erklären, dass ich weder ein WM-Reporter war, auch wenn ich so aussah, noch ich mit meiner Fotoausrüstung eine Lizenz zum ungehinderten Eintritt in die geschlossenen Mainarena hatte. Im Gegenteil: "Jaja, das sagst Du nur so. Natürlich bist Du ein Fotograf und kommst ohne Weiteres in die Mainarena ...". Ich konnte ihnen nicht einmal böse sein, wahrscheinlich hätte ich als Jugendlicher ähnliche Versuche unternommen, mir irgendwie Zutritt zur Mainarena zu verschaffen. Der Phantasiereichste von allen war jener Junge, der mir seine Assistenz anbot. Er sei ab sofort mein Fotografen-Assistent, dies könne ich den Securitys doch ruhig erzählen. Er würde mir auch tatsächlich helfen, zum Beispiel beim Tragen meiner Taschen usw. usf. Und er lies nicht locker: als er merkte, dass ich mich nicht darauf einließ, vollzog er einen Strategiewechsel, indem er mir vorschlug mich ganz und gar nach dem Eintritt in die Arena in Ruhe zu lassen. Voller Hoffnung, dass ich mich mit seiner passiveren Haltung mir gegenüber breitschlagen ließ und es mir doch noch einmal anders überlegte, sah er mich bittend und auffordernd an. "Pass mal auf", begann ich in ruhigem Ton, "ich sage es Dir noch einmal: ich bin kein WM-Fotograf und komme auch nicht in die Mainarena, wenn diese geschlossen ist. Also kann ich Dich auch nicht mitnehmen ...". Er glaubte mir einfach nicht: "Das gibt's doch nicht ... Sag' doch einfach, ich sei Dein Assistent ...", begann er von Neuem. Ich wusste, dass er sich nicht eher von mir loseisen würde, bis es kein Funken Hoffnung mehr für ihn gab. "OK, dann versuchen wir es!", forderte ich ihn auf und sofort wich sein trauriger Blick einem Leuchten in seinen Augen. Die Angelegenheit war schnell erledigt: wir gingen zu einem der Securitys am Public Viewing Ost. Ich fragte ihn, ob ich reinkommen dürfe, er gab mir ein klares Nein zurück. Dann wendete ich meinen Blick zu dem resigniert dreinschauenden Jungen und sprach zu ihm: "Siehst Du, ich komme hier nicht rein!". OK, dann könne man wohl nichts machen und mit einem traurigen Tonfall murmelte er mir noch zu: "trotzdem Dankeschön ...".
* * * * * The End * * * * *
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